Salutogenese

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#Selbstregulation #Resilienz #Gesundheit  #Kohärenz #Stimmigkeit

Sandra Andrea Kunz

Salutogenese ist eine Wissenschaft zur Entwicklung gesunden Lebens. Die Leitfrage ist: Wie entsteht Gesundheit für Einzelne und für alle Menschen in der Biosphäre?

Revolutionär ist das völlig neue Denken des Gesundheitsbegriffs. Aaron Antonovsky, israelisch-amerikanischer Medizinsoziologe, prägte das Wort „Salutogenese“. Er beschrieb u.a. das Krankheits-/Gesundheitskontinuum und stellte fest, dass Gesundheit kein fixer Zustand ist, der erreicht und gehalten werden kann, sondern ein sich ständig entwickelnder Prozess.

Der Mensch bewegt sich im Laufe seines Lebens zwischen den Polen „krank“ und „gesund“ und keiner der beiden ist absolut. Das heißt, jeder Mensch hat mehr oder weniger gesunde Anteile in sich. So haben auch schwer Kranke gesunde Anteile. Das zu sehen ist ein entscheidender Schritt der salutogenen Denkweise: Krankheiten und Probleme werden also nicht vorrangig bekämpft, sondern als Teil des Ganzen integriert.

Völlig neues Denken

Antonovsky entdeckte das Gefühl, den Sinn für Kohärenz und nannte dies „Sense of Cohaerence“ (S.o.C.). Kohärenz bedeutet Stimmigkeit. Dabei spielen drei Komponenten die entscheidende Rolle: Bedeutsamkeit/Sinnhaftigkeit, Handhabbarkeit und Verstehbarkeit. Das sind die Grundpfeiler seines Konzepts. Alle lebenden Systeme streben in Richtung Stimmigkeit/Kohärenz, dem Gesundheitspol entgegen. Werden übergeordnete Ziele und Wünsche bewusst, verstärkt sich das Streben und wirkt wie ein starker Sog.

Dieses Denken ermöglicht Patient*innen und Therapeut*innen bzw. Gesundheitsdiener*innen ganz neue Rollen und Wege:

Patient*innen steigen aus ihrer Opferrolle aus (im Sinne von „ich bin hilflos, mach mich gesund“). Sie werden in ihrer Autonomie bestärkt und übernehmen Verantwortung.

Therapeut*innen stellen Patient*innen partnerschaftlich ihr Wissen zur Verfügung und unterstützen sie auf dem Weg zu ihrem Gesundheitsziel. Damit werden Therapeut*innen nicht auf eine Retter*innenrolle reduziert, die sie auch oft zum*r Täter*in werden lässt (im Sinne von „ich weiß was dir fehlt und was du brauchst“).

Ein stimmiges Miteinander (partnerschaftliche Kooperation) entsteht. Allein durch diese neuen Perspektiven können Krankheiten ihren Schrecken verlieren, Vertrauen wächst und ein Raum für kreative, neue Lösungen öffnet sich. Diese neue Haltung, die ein ungeahntes Potential an Entwicklungsmöglichkeiten über den therapeutischen Kontext hinaus ermöglicht, muss natürlich eingeübt werden.

Salutogenese ist also nicht als positives Denken abzutun, sie anerkennt alles, auch das sogenannte Negative, und schließt Pathogenese mit ein. Der nach vorne gerichtete Blick ist die verändernde Kraft, auch Attraktiva genannt. Sie bezieht Ressourcen und Fähigkeiten mit ein.

Wir Menschen sind eingebettet in verschiedene Lebensdimensionen, in denen wir mehr Stimmigkeit/Kohärenz entwickeln wollen:
Körperliche, soziale, kulturelle, globale und spirituelle Lebensdimensionen sind miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. So kann das Aufforsten des Regenwaldes zu meiner Gesundheit beitragen, auch wenn das marginal erscheint, und mein Handeln kann gesundheitsfördernd für andere sein.

Gesundheit entsteht durch die Sogwirkung von Kohärenz/Stimmigkeit
Dies möchte ich anhand einer Geschichte in drei Akten verdeutlichen. Sie ist bewusst von der Stimmigkeit aus erzählt und blickt zurück.

Akt 3: Etappenziel geschafft!

Herr Salus staunt und reibt sich die Augen. Das hätte er in seinen kühnsten Träumen nicht geglaubt. Der jähe Schlag ist erst 2 Jahre her. Und dann vor kurzem diese unglaubliche Begegnung mit dem jungen Mönch. Die Ruhe und Ausgeglichenheit, die dieser Mann ausstrahlt, das hat ihn total geflashed.

Und das war noch nicht alles: Bei einem Yoga-Retreat lernt er ein paar Menschen kennen. Oft sitzen sie nach den Yogasessions zusammen und tauschen sich aus. Dann fühlt er sich belebt und verbunden und so frei. Es ist also möglich!
Das will er mit anderen Menschen teilen. Diese Tiefe, Weite und Ruhe hinaus senden. Beflügelt von diesem Kosmos will er eine Plattform gründen, will mitteilen und von anderen erfahren.

Was ist geschehen?
Herr Salus hat sich gefragt: Was gibt meinem Leben Sinn? Welche Werte sind mir wirklich bedeutsam? Was tut mir nachhaltig gut und stimmt für mich? Was bereitet mir tiefe, anhaltende Freude und Frieden? Vielleicht hast du dich all das auch schon gefragt?

Die Theorie dazu:
Akt drei der Geschichte ist ein zugespitztes Beispiel für Kohärenz (Stimmigkeit).

Theodor Dierk Petzold bezeichnet dies in der Salutogenen Kommunikation (SalKom®) Kohärenzmotivation (was motiviert zum gelingenden Leben?).
Petzold hat das S.o.C. Modell von Antonovsky weiterentwickelt und nennt es Stimmigkeits-/Kohärenzregulation.

Dazu gehört:
1. Wahrnehmen, was bedeutsam ist
2. Zielorientiertes Handeln
3. Reflektieren/Bilanzieren und daraus lernen

Diese drei Komponenten sind ein Kreislaufmodell, das Stimmigkeit in den unterschiedlichen Lebensdimensionen ankurbelt und reguliert:

Selbst- und Kohärenzregulation des Menschen nach T.D. Petzold

Kooperation macht glücklich – ein Zitat von T.D. Petzold. Die Evolution hat sich nicht, wie landläufig bekannt, aus dem Darwinismus – der Stärkere gewinnt – zu komplexeren Lebewesen entwickelt, sondern durch Kooperation. D.h. niedrigere Arten sind komplexer geworden durch Kooperation mit ihrer Umwelt. Mitochondrien beispielsweise waren eigenständige Lebewesen und sind heute Zellkraftwerke im Körper. Kooperation im höheren Sinne schließt notwendige Abwehrmechanismen (siehe Aversionsmotivation) mit ein.

Das Kernstück der salutogenen Kommunikation (SalKom®) sind die vier Stufen der Kooperation nach Michael Tomasello, amerik. Anthropologe und Verhaltensforscher:
1. Kooperationspartner*innen gehen aufeinander ein
2. Sie haben eine gemeinsame Intension
3. Sie stimmen ihre Rollen möglichst freiwillig ab
4. Sie helfen sich gegenseitig, wenn Hilfe gebraucht wird

Forschungen belegen, dass Kohärenzmotivation mit einer vermehrten Ausschüttung von Serotonin einhergeht.

Keywords der übergeordnete Kohärenzmotivation sind:
Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit, Vertrauen, Mut, Autonomie, Stimmigkeit, Wohlbefinden, Ich im Wir, Zugehörigkeit, Gerechtigkeit, Harmonie, Fairness, Sinnhaftigkeit, tiefe langanhaltende innere Freude, Integration, Gelassenheit, Gleichmut, Zufriedenheit, partnerschaftliche Kooperation, Freude am stetigen sich Entwickeln und Dazulernen, starker Sog in Richtung zunehmender Stimmigkeit, Freude und Mitgefühl.

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Akt 2: Wendepunkt

Der Schreck sitzt Herrn Salus noch in den Gliedern, aber jetzt kann er genießen. Das hat er in der Reha gelernt: gut und richtig essen, schlafen, atmen, entspannen, sich bewegen. Er will resilienter werden und vermeiden, was ihn stresst.

Entscheidend aber ist, dass er entdeckte, was er will und ihm guttut: sich spüren und seine Bedürfnisse mitteilen. Und nicht nur, was er nicht tun soll. Heute fühlt er seinen Körper, ist gesellig, schäkert mit Frauen, trinkt gerne mal ein Gläschen und freut sich, dass er lebt.

Was ist geschehen?
Herr Salus hat sich gefragt: Was gibt mir Freude, sinnlichen Genuss und macht Lust in meinem Leben? Wie kann ich meine Bedürfnisse befriedigen? Wie bekomme ich Anerkennung? Kennst du das?

Die Theorie dazu:
Akt zwei zeigt den Übergang von der Abwendungs-/Aversionsmotivation zur Annäherung (Appetenzmotivation).

Salutogenese kommt ursprünglich aus der Resilienzforschung, geht aber darüber hinaus. Widerstand wendet Gefahren/Stressoren ab, Resilienz entsteht. Das salutogene Denken jedoch basiert auf Vertrauen in eine friedliche, wohlgesonnene, kooperative Umwelt.

Forschungen belegen, dass Annäherungsmotivation vermehrt Dopamin ausschüttet, das angenehme sinnliche Lustgefühle auslöst. Durch die Suche nach lustvollen Kicks besteht die Gefahr, zum Sucht- und Konsumjunkie zu werden.

Keywords der Appetenzmotivation sind:
Lust, Kick, Genuss, Sinnlichkeit, Sexualität, Süchte, Konsum, Gefühle wahrnehmen, sich wieder spüren, Gesundungszeichen, Freudeimpulse kurzfristig und wellenartig, Probleme lösen.

Akt 1: Überlebt!

Panik! Dieser wahnsinnige Schmerz im linken Arm, im Brustkorb. Er ringt nach Luft, würgt, ist schweißnass und sinkt zusammen. Ein dumpfes Sirren in seinen Ohren, schrilles abgehacktes Pfeifen. Herr Salus öffnet die Augen. Er lebt!
„Glück gehabt!“ Ein freundlicher Mann im weißen Kittel setzt sich zu ihm ans Bett und klärt ihn behutsam auf, was geschehen ist. Herr Salus ist auf dem Weg zum Meeting zusammengebrochen. Er hatte einen schweren Herzinfarkt. Was für ein Schock!
Aber sein Konzept? Die Deadline? Es war doch alles so dringend und er hatte es gerade rechtzeitig geschafft. Herzinfarkt! Warum ausgerechnet jetzt? Warum er?
Es musste ja so kommen, denkt er nach einigen Tagen, dieser Druck! Jetzt ist er erstmal raus und hat überlebt.

Was ist geschehen?
Herr Salus hat sich gefragt: Was habe ich falsch gemacht? Warum haben sie mir so viel aufgebürdet – die Firma, meine Frau, meine Kinder, das Haus? Wie kann ich schnell wieder funktionieren? Kennst du diese Fragen?

Die Theorie dazu:
Akt 1 der Geschichte zeigt die Abwendung-/Aversionsmotivation, die das Überleben sichert, aber krank macht, wenn sie länger andauert.

Denken in „Entweder – Oder“ ist typisch für diese Motivation und sehr verbreitet: Feind oder Freund, ich oder du, Erfolg oder Niederlage, Recht oder Unrecht usw. Es ist nur eine Ursache, die mich zum Opfer macht. In diesem Stress ist kreatives Denken blockiert, das wir brauchen, um Lösungen zu finden.

Die Erkenntnis, sich als Opfer zu fühlen, ist der erste Schritt raus aus diesem Denken. Der zweite ist zu fragen: Was brauche ich jetzt, was tut mir gut? Dies ist eine Möglichkeit, aus dem Macht-Opfer-Dreieck (nach T.D. Petzold) auszusteigen und über die Annährungsmotivation wieder in partnerschaftliche Kooperation (Stimmigkeit) zu gehen.

Die Fragen, „Was habe ich falsch gemacht?“, „Wer ist schuld?“, sind typisch für die Aversionsmotivation. Sie sind mit Stress verbunden, Adrenalin und Noradrenalin wird ausgeschüttet.

Keywords der Aversionsmotivation sind:
Unstimmigkeit, Angst, Schmerz, Opferrolle, Ohnmacht, Hilflosigkeit, sich klein fühlen, Isolation, Resignation, Todesangst, Erstarrung, Lähmung, Demotivation, Ungerechtigkeit, Probleme haben, Willenlosigkeit, Antriebslosigkeit, Abgrenzung, Dissoziation.

Gesunde Entwicklungsprozesse laufen natürlich nicht linear, wie hier in der Geschichte erzählt, sondern sind ein Suchen und Finden.

Ausblick: Salutogenese im kulturellen und globalen Kontext

Wenn Herr Salus nicht ein einzelner Mensch, sondern eine ganze Gruppe oder gar eine Nation ist, die in Angst und Schrecken stecken bleibt (z.B. Kriegsgebiete, Pandemien, Klimakatastrophen) und den Wendepunkt zur Annährungsmotivation oder zur übergeordneten Kohärenzmotivation nicht schafft, kann das fatale Auswirkungen auf ganze Systeme haben.

Menschen, die bereit sind und den Sprung zum partnerschaftlichen Kooperieren schaffen, schließen sich zusammen. Im ko-kreativen Mitgestalten finden sie einen Sinn und fühlen Freude, sie sind im Flow. Denn „Kooperation macht glücklich“, selbst wenn das Ziel noch weit entfernt erscheint.

healthstyle

Literatur:
Aaron Antonovsky: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Deutsche Herausgabe von Alexa Franke, Tübingen 1997

Dachverband für Salutogenese: Positionspapier zur Zukunft von Gesundheitsförderung und Prävention. www.dachverband-salutogenese.de/Über uns/Positionspapiere/ PDF Download Januar 2022

Theodor Dierk Petzold: Gesundheit ist ansteckend. Praxisbuch Salutogenese, München 2. Auflage 2020 (Salutogenese für den Einstieg)

Theodor Dierk Petzold: Drei entscheidende Fragen. Salutogene Kommunikation zur gesunden Entwicklung, Bad Gandersheim 2. Auflage 2022 (Kursbuch zur SalKom®-Ausbildung)

Theodor Dierk Petzold, Anja Henke: Motivation. Grundlegendes für ein gelingendes Leben. Bad Gandersheim, 2023 (mit Impulsen zur Mitgestaltung einer friedlichen Weiterentwicklung unserer Zivilisation)

Theodor Dierk Petzold: Schöpferisch Kommunizieren. Aufbruch in eine neue Dimension des Denkens. Bad Gandersheim, 2. Auflage 2022 (komplex und wissenschaftlich)

Eckhard Schiffer: Wie Gesundheit entsteht. Salutogenese – Schatzsuche statt Fehlerfahndung. Weinheim/Basel 2013 (Basisliteratur)

Veranstaltungstipps:
Kokreatives Kulturtreffen (KKT) – Was wollen wir kultivieren? Jeden 1. Sonntag im Monat um 20 Uhr, online, Anmeldung:
www.salutogenese-zentrum.de  

Ausbildung in Salutogener Kommunikation für Alle, Ausbildung zur Salutogenen BeraterIn (Basisausbildung), Aus-, Fortbildungen für Therapeut*innen und Gruppen Anfrage unter info@salutogenese-sued.de
www.salutogenese-sued.de

Über die Autorin:

Sandra Andrea Kunz

Sandra Andrea Kunz ist Heilpraktikerin in eigener Praxis, Gesundheitspädagogin (GPA), SalKom® Therapeutin und Ausbilderin. Seit 2019 leitet sie mit Maria Sailer und Markus Übelhör das Zentrum für Salutogenese Süd in Passau. Ihr online-Kanal: STUDIO S – der Kanal für stimmiger leben besteht seit 2021.
www.heilkunst-passau.de
www.salutogenese-sued.de
www.studio-s.plus  

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